Filmrezension von Jürgen Bürgin bei Avisualize

„Manchmal hab ich mich gefragt, wie ich das überlebt habe“, sagt einer der Betroffenen, der in den 60erjahren im Kinderheim der evangelikalen „Brüdergemeinde“ im Ort Korntal untergekommen war. Korntal hatte keine 10000 Einwohner, seit 1975 ist die nahe Stuttgart gelegene Gemeinde zur Stadt Korntal-Münchingen zusammengelegt. Schwäbische Provinz. Seit den 1950er Jahren wurden im Kinderheim der evangelikalen Brüdergemeinde Hunderte von Kindern sexuell missbraucht, zu Arbeit gezwungen, geschlagen, gequält, gezüchtigt. Sie seien „Menschenmüll“ gewesen, sagt einer der Betroffenen. Lange wurde alles totgeschwiegen, aber bis heute haben 150 ehemalige Heimkinder ihr Schweigen gebrochen, achtzig Täterinnen und Täter wurden inzwischen ermittelt. Die hatten sich gegenseitig gedeckt, das Umfeld hat weggeschaut. Der Missbrauch konnte lange Jahrzehnte weitergehen. Erst 2013 kam der Skandal an die Öffentlichkeit, aber immer noch blockierten sowohl die Gemeinde als auch die Dorfgemeinschaft. Erst als der öffentliche Druck wuchs, begann man zögerlich den Aufarbeitungsprozess, der aber, wie bei vielen Missbrauchsfällen in Institutionen zutiefst unbefriedigend verlief. Aussagen wurden angezweifelt, die Opfer mussten ihre Traumata wieder durchleben. Der Kampf um Aufklärung und Wiedergutmachung dauert bis heute an.

Von Schlägen mit einem heißen Kleiderbügel berichtet eine Betroffene. „Statt der Gutenachtgeschichte haben wir unsere Prügel gekriegt.“ Ohne Grund. Ohne konkreten Anlass. Die Kinder entwickeln Ängste und Alpträume. Schlaflosigkeit. Bedrückende Schwarzweiße Illustrationen untermalen die Erzählungen der Betroffenen. „Wenn ich mich erinnern möchte, dann schau ich in den Spiegel“, sagt einer. „Es geht darum, dass die sich erinnern.“

Nach außen sah dieses Kinderheim aus, wie ein Paradies. Ein Vorzeigeobjekt. Schöne Häuser, ein Schwimmbad, hundert Pferde, eine eigene Schule. Die Jugendämter und die Landesregierung war zufrieden. Aber alles war nur Schein. Psychische Gewalt herrschte, man wurde den ganzen Tag fertig gemacht, erzählt ein Bewohner. Gewalt durch die Lehrer, bis hin zu schweren Verletzungen. Aber das habe man schon verdient. Schläge wegen Nichtigkeiten. In den Keller eingesperrt. In Gottes Namen. Alles muss mit körperlicher Gewalt bestraft werden. Die verprügelten Kinder wurden dann gleich noch verarztet, damit die Prügelaktionen nicht an die Öffentlichkeiten drangen. Sexueller Missbrauch, Vergewaltigungen. Auch von Pateneltern, die Kinder für ein Wochenende mit nach Hause nehmen konnten. Oder vom Hausmeister des Kinderheims. „Und wenn du irgendwas erzählst, dann knallt’s.“ Die Erzählungen nehmen kein Ende, bedrückende Schilderungen. Mit den Heimkindern sollten sich die anderen Korntaler nicht abgeben. Und es gibt Nachbarn, Anwohner, die die Leiter des Kinderheims noch heute in Schutz nehmen.

Endlich bekommen die Betroffenen mit diesem beeindruckenden Film eine Stimme. Der Film verzichtet auf jegliche Dramatisierung. Die Erzählungen der Opfer reichen aus. Sie sind bedrückend, unfassbar. Die Verbrechen der Brüdergemeinde in Korntal verschlagen einem den Atem. „Die Kinder aus Korntal“ ist ein wichtiger Film.

Quelle:

SWR KULTUR

Detlev  Zander machte seiner Erfahrung als erster öffentlich

2013 kommt in Korntal einer der umfassendsten Missbrauchsfälle in kirchlichen Heimen ans Licht. Der Film begleitet Betroffene bei ihrem Kampf um Aufklärung und gehört werden.

„Das heilige Korntal“ – so kennt man die Gemeinde in der Nähe von Stuttgart. Seit über 200 Jahren betreibt die pietistische Brüdergemeinde hier Kinderheime.

2013 bekommt die heil(ig)e Welt Risse: erste Betroffene berichten von jahrelangen Misshandlungen und sexuellem Missbrauch seit den 1950er-Jahren. In der Folge beginnt ein zähes Ringen um Aufarbeitung und Entschädigung, um Deutungshoheit und Imagepflege.

Die Kinder aus Korntal
Die Kinder aus Korntal

Regisseurin Julia Charakter hat sechs Betroffene über mehrere Jahre begleitet. Entstanden ist ein tiefgründiger, bedrückender Dokumentarfilm, der aber auch zeigt, welche Kraft entstehen kann, wenn Menschen sich entscheiden, keine Opfer mehr sein zu wollen.

Julia Charakter

Dokumentarfilm
ab 26.09.2024 im Kino
Die Kinder aus Korntal
Ein Film von Julia Charakter

Deutschland 2023, 90 Minuten

https://www.swr.de/swrkultur/film-und-serie/die-kinder-aus-korntal-missbrauch-im-namen-des-herrn-100.html

FRANKFURTER RUNDSCHAU

„Die Kinder von Korntal“ von Julia Charakter: Gottes misshandelte Kinder

Stand:25.09.2024, 16:33 Uhr

Von: Daniel Kothenschulte

Julia Charakters meisterhafter Dokumentarfilm über den Missbrauchsskandal im evangelischen Kinderheim aus Korntal.

Das Schweigen hat eine Ästhetik. Die Dokumentar-Filmemacherin Julia Charakter hat sie in der dezent modernen Inneneinrichtung eines mächtigen Kirchenbaus gefunden. Wenn man im imposanten Großen Betsaal der pietistischen Brüdergemeinde im Württembergischen Korntal die Stühle sortiert, scheint man zugleich mit seiner düsteren Vergangenheit aufräumen zu wollen. Doch es ist eine Sisyphusarbeit.

Die überlebenden Opfer des jahrzehntelangen Missbrauchs wollen nicht mehr schweigen. Nicht nach der Publikation einer von der Gemeinde beauftragten Studie, deren Unabhängigkeit einige der Betroffenen anzweifeln. Nicht nach lächerlich geringen Entschädigungszahlungen, die ein Opfer, das über Jahre erst verprügelt und erniedrigt und dann systematisch vergewaltigt wurde, auf einen Euro und ein paar Cent pro Tag herunterrechnet. Womit solle sie, wenn es dazu komme, häusliche Pflege für sich bezahlen? Denn noch einmal in ein Heim zu kommen – das sei ihr eine unerträgliche Vorstellung.

2014 hat ein anderes ehemaliges Heimkind, Detlev Zander, seine Leidensgeschichte öffentlich gemacht und damit unzählige weitere Opfer ebenfalls dazu angeregt. In diesem Film ist er einer der Protagonisten. „Ich mag das Wort nicht: Menschen eine Stimme geben“, sagt er. „Menschen mit Gewalterfahrung haben Stimmen, nur sie werden nicht gehört.“

Indem die Filmemacherin diesen Satz an den Anfang ihres Films stellt, nimmt sie auch dem allzu einfachen Lob über die eigene Arbeit den Wind aus den Segeln. Denn mit einem bloßen Podium für die aussagewilligen Opfer ist eine derart durchdachte dokumentarische Aufklärung nicht zu haben.

Am Schneidetisch treten sie in einen Dialog, der in der Wirklichkeit nicht zu haben ist: Mit Vertretern der Kirche wie dem späteren Brüdergemeinde-Leiter Klaus Andersen, der im Namen der Täter mit warmen Worten die christliche Gnade der Vergebung einfordert. Oder einem betagten Ehepaar aus der Gemeinde, das mit seinen Spenden keine weiteren Entschädigungen mehr zahlen will. Schließlich seien viele Beschuldigte längst rehabilitiert und möglicherweise Erlittenes doch von der seither verstrichenen Zeit gemildert.

Bilder für das Verdrängte

Selbstverständlich gibt die Filmemacherin den Stimmen der Opfer allen Raum. Aber was will man dazu zeigen, wenn sie das über Jahrzehnte verdrängte in schonungslose sprachliche Bilder rücken? Manchmal wählt sie tatsächlich das Mittel der Illustration in einfachen digitalen Animationen in der Art schwarz-weißer Tafelzeichnungen. In einer poetischen Inszenierung lässt sie ein anderes Mal heliumgefüllte Teddy-Luftballons über der Landschaft zwischen Stuttgart und Ludwigsburg schweben.

Meist aber erweisen sich unscheinbare Nahaufnahmen aus den klerikalen Tatorten als mitteilsamer. „Kinder sind ein Geschenk Gottes“ steht da etwa auf einer Wand. Verschenkt wurden die Heimkinder tatsächlich. Der pädophile Hausmeister durfte sich bedienen, der Lehrer der eigenen Schule und sogar Gemeindemitglieder: Als „Paten“ durften sie Kinder ausleihen und mit ihnen anstellen, was sie wollten. Als eines der Opfer zum Begräbnis eines anderen ging, das als junger Erwachsener Suizid begangen hatte, sah er dessen Vergewaltiger, besagten Hausmeister, das Grab ausheben. Und sich der leidigen Mehrarbeit rühmen.

Ein historischer Fernsehbeitrag aus dem Archiv dokumentiert die Außendarstellung. Als Bilderbuchheim werden da die malerisch gelegenen Einrichtungen der Brüdergemeinde in satten 70er-Jahre-Farben verkauft. „Mehr Pferde als Kinder schauten da aus den Fenstern“, erinnert sich dagegen ein Opfer. Die Heimkinder säuberten die Ställe, reiten durften die anderen. Für einen Kirchenbediensteten mussten sie auf dem Bau schuften, verprügelt wurden sie dagegen allabendlich grundlos. Wenn schon rund 90 Filmminuten eine Herausforderung sind, mit so viel Leid konfrontiert zu werden – wie bewundernswert sind die Jahre, die sich die Filmemacherin dieser Arbeit widmete.

Unfassbare Dimension

Mehr als 150 ehemalige Heimkinder haben sich inzwischen zu ihrem Erlittenen bekannt, mehr als 80 Täter konnten ermittelt werden. Allein die Dimensionen dieser Tragödie sind kaum filmisch zu repräsentieren, und doch wird der Film ihren Ausmaßen gerecht. Dies gelingt in der Auswahl des Erzählten und der Zeit, die sich Julia Charakter für die einzelnen Beispiele nimmt. Trotz der vielen inzwischen in Deutschland dokumentierten ähnlichen Missbrauchsgeschichten fehlt es an einem Denkmal in Spielfilmgestalt, wie es etwa Peter Mullans Drama „Die unbarmherzigen Schwestern“ für die Verbrechen in den irischen Magdalenenhäusern darstellt. Dafür gibt es jetzt einen Dokumentarfilm, der mit einfachen filmischen Mitteln Ähnliches leistet.

Bettina Wegeners Protestsong gegen Kindesmissbrauch, „Sind so kleine Hände“, steht am Anfang und am Schluss. Ein Opfer wählt ihn bei einer Gedenkveranstaltung aus. Wie schwer erträglich mochten einem in der eigenen Kindheit seine sehr direkten Bilder seelischer und körperlicher Zerstörung erscheinen. Nun, nach Jahrzehnten, wirkt er selbst wie eine lange verdrängte Wahrheit.

Die Kinder von Korntal. Dokumentarfilm. Regie: Julia Charakter. D 2023. 95 Min.

https://www.fr.de/kultur/tv-kino/die-kinder-von-korntal-von-julia-charakter-gottes-misshandelte-kinder-93321214.html

HAUS DES DOKUMENTARFILMS

Wider das Vergessen: DIE KINDER AUS KORNTAL von Julia Charakter

DIE KINDER AUS KORNTAL ist ein ergreifend schmerzhafter Dokumentarfilm gegen das Vergessen, der leise erzählt umso stärker nachhallt. Empathisch und respektvoll spürt die Drehbuchautorin und Regisseurin Julia Charakter darin Missbrauchsfällen von Kindern und Jugendlichen in den Kinderheimen der Evangelischen Brüdergemeinde und ihrer Diakonie in Korntal und Wilhelmsdorf nach.

CONTENT WARNUNG: Dieser Artikel und der Dokumentarfilm DIE KINDER AUS KORNTAL behandeln Themen wie psychische, körperliche und sexualisierter Gewalt, PTBS, Suizidalität und Machtmissbrauch. Diese können Trigger sein und/oder (re)traumatisierend wirken. Hilfs- und Beratungsangebote sind u. a. beim BMFSFJ und bei Unicef gelistet.

Rathaus Korntal-Münchingen, offizielles Pressebild der Stadt (Credit: Stadt Korntal-Münchingen)
Rathaus Korntal-Münchingen (Pressebild der Stadt)

Das „heilige Korntal“

Korntal-Münchingen hat gut 20.000 Einwohner:innen und ist ein idyllisches Städtchen mit hoher Lebensqualität. Circa eine halbe Stunde mit dem Auto oder der S-Bahn von Stuttgart entfernt, vereint der Ort die Vorzüge des ländlichen Raums mit einer guten Infrastruktur und Anbindung. In der Region ist die Kleinstadt aufgrund ihrer Geschichte und der starken Präsenz der Evangelischen Brüdergemeinde auch als „heiliges Korntal“ bekannt. Diese ist eine selbständige christliche Gemeinde, die als Körperschaft des öffentlichen Rechts in Kooperation mit der Evangelischen Landeskirche in Württemberg seit 1819 besteht und aktuell rund 1.500 Mitglieder zählt. 

Systematische Gewalt gegenüber den Schwächsten

Gleichzeitig ist Korntal ein Ort, an dem ab den 1950er Jahren bis weit in die 2000er hinein schreckliche Straftaten verübt wurden: systematische psychische, körperliche und/oder sexualisierte Gewalt gegenüber den Schwächsten – Kinder und Jugendliche, die sich als Waisen oder sogenannte „Sozialwaisen“ (Menschen mit Angehörigen, die sich aber nicht mehr kümmern können oder wollen) in der Obhut der pietistischen Brüdergemeinde befanden. Die Verbrechen wurden erstmals 2014 durch Detlev Zander (Aufmacherbild des Artikels) öffentlich gemacht, der sich seitdem mit anderen Opfern für die Aufarbeitung der Taten engagiert. Bis heute sind gut 180 Fälle bekannt und bestätigt. Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen, denn zahlreiche ehemalige Heimkinder sind bereits verstorben bzw. haben sich suizidiert.

Filmstill aus DIE KINDER AUS KORNTAL. Man sieht eine Kirche im Abendlicht, im Vordergrund fährt ein Kind auf einem Roller durchs Halbdunkel (Credit: DOK Leipzig 2023/DIE KINDER AUS KORNTAL, Regie: Julia Charakter)
Blick auf den Saalplatz in Korntal (Filmstill aus DIE KINDER AUS KORNTAL)
Filmstill aus DIE KINDER AUS KORNTAL. Man sieht einen Mann am S-Bahnhof Korntal. Dieser Bahnhof liegt im Nebel. Die Stimmung wirkt gedrückt. Der Mann schaut nach unten, sein Gesicht ist nicht zu sehen, er steht im seitlichen Profil. (Credit: DOK Leipzig 2023/DIE KINDER AUS KORNTAL, Regie: Julia Charakter)
S-Bahnhof Korntal (Filmstill aus DIE KINDER AUS KORNTAL)

Hinschauen, auch wenn es wehtut

„Ich mag dieses Wort nicht ‚Betroffenen eine Stimme geben‘“, betont Detlev Zander gleich zu Beginn des Films. „Betroffene haben alle eine Stimme. Menschen mit Gewalterfahrungen haben Stimmen. Bloß werden sie nicht gehört!“ Filmemacherin Julia Charakter hört hin – und vor allem hört sie zu. Vor die Kamera holt sie einige der Opfer, die vom Erlebten erzählen. Manche Geschehnisse werden zudem durch Schwarz-Weiß-Animationen (Mick Mahler) visualisiert. Die Schilderungen der Straftaten sind kaum auszuhalten und können gleichwohl nur einen Bruchteil des Grauens wiedergeben, dem die Kinder aus Korntal lange Zeit wehrlos ausgesetzt waren. Schwer traumatisiert und nicht selten gebrochen gehen sie als Erwachsene durchs Leben. Viele von ihnen sind in stationärer oder ambulanter Behandlung, können oftmals keinem geregelten Beruf nachgehen, haben Probleme im Alltag und im zwischenmenschlichen Kontakt.

Filmstill aus DIE KINDER AUS KORNTAL. Man sieht ein animiertes Bild in Schwarz-Weiß, das eine körperliche Züchtigung einer Person zeigt. Diese liegt über einem Stuhl. Im Raum sind weitere Personen, die auf Stühlen sitzen. Eine Person ist frontal abgebildet und hält den Blick gebeugt und die Hände zwischen den Knien gefaltet. (Credit: DOK Leipzig 2023/Regie: Julia Charakter)
Körperliche und psychische Gewalt gegenüber Schutzbefohlenen
Filmstill aus DIE KINDER AUS KORNTAL. Man sieht ein animiertes Bild in Schwarz-Weiß, das einen Schlafsaal mit drei Betten zeigt sowie eine stehende Person am Rand des Bildes, die von hinten dargestellt wird und etwas betrachtet oder rausschaut. Eine genaue Einordnung des Blickes ist schwer möglich. (Credit: DOK Leipzig 2023/Regie: Julia Charakter)
Blick in den Schlafsaal (beide Animationen: Mick Mahler)

Den Opfern zuhören

Kamera und Montage fokussieren während der Interviews und den oftmals in kühlen, gedeckten „November-Farben“ gehaltenen Aufnahmen im Ort ruhig auf das, was geschieht und gesagt wird. Es erfolgt keine zusätzliche Dramatisierung der Aussagen, z. B. durch schnelle Kamera-Bewegungen und Schnitte (Kamera und Montage: Jonas Eckert mit Julia Charakter) oder den Einsatz von betont emotionalisierender Musik (Komponist Leonard Küßner arbeitet im besten Wortsinn subtil). Allein Bettina Wegners Lied „Kinder (Sind so kleine Hände)“ erklingt prominent zu Beginn und zum Ende des Dokumentarfilms und brennt sich in Ohren und Herz ein. Wer auf den Text hört, weiß warum.

 KINDER (Sind so kleine Hände)

von Bettina Wegner

Lyrics

Sind so kleine Hände, winz’ge Finger dran
Darf man nie drauf schlagen, die zerbrechen dann
Sind so kleine Füße, mit so kleinen Zeh’n
Darf man nie drauf treten, könn’ sie sonst nicht geh’n
Sind so kleine Ohren, scharf und ihr erlaubt
Darf man nie zerbrüllen, werden davon taub
Sind so schöne Münder, sprechen alles aus
Darf man nie verbieten, kommt sonst nichts mehr raus
Sind so klare Augen, die noch alles seh’n
Darf man nie verbinden, könn’n sie nichts versteh’n
Sind so kleine Seelen, offen und ganz frei
Darf man niemals quälen, geh’n kaputt dabei
Ist so’n kleines Rückgrat, sieht man fast noch nicht
Darf man niemals beugen, weil es sonst zerbricht
Grade klare Menschen wär’n ein schönes Ziel
Leute ohne Rückgrat hab’n wir schon zuviel
© Bettina Wegner, 1976

Für das Geschehene geradestehen

Auch relativiert, subjektiviert und kommentiert Julia Charakter nicht. Das überlässt sie dem Korntaler Bürger Andreas Schönberger, der ehemaligen Frankfurter Jugendrichterin Dr. Brigitte Baums-Stammberger, die Teil der Aufklärungskommission war, und teils ranghohen Mitgliedern der Gemeinde. Die Statements, die vor allem Jochen Hägele (bis 2022 Pfarrer und Geistlicher Vorsteher der Brüdergemeinde) und das alteingesessene Ehepaar Schweizer tätigen, machen mehr als einmal fassungslos. Erschütternde Lebens- und Leidensgeschichten von vielen werden durch ihre Worte zu tragischen Einzelschicksalen degradiert, die u. a. mit einer sozial schwachen Herkunft der Person gerechtfertigt werden.

Je länger DIE KINDER AUS KORNTAL läuft, desto deutlicher wird, dass das Einstehen für die schwere Schuld, die die Brüdergemeinde auf sich geladen hat, und eine echte Aufarbeitung der Taten noch lange nicht passiert sind. Vielmehr schwingt unterschwellig immer das Gefühl mit: „Nun ist schon so viel Zeit vergangen, jetzt muss es auch mal gut sein mit dieser leidigen alten Geschichte.“ Eine Gedenkstele für Missbrauchsopfer, ein paar warme Worte und geleistete Anerkennungszahlungen meist im niedrigen vierstelligen Bereich können jedenfalls nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine aus tiefstem Herzen kommende Reue und die aufrichtige Bitte um Vergebung noch immer weitgehend fehlen. Auch das hebt der Film in seinem bewusst unaufgeregten Ton schmerzhaft hervor.

DIE KINDER VON KORNTAL ist schwer zu ertragen und findet hoffentlich trotzdem – und gerade deshalb – sein Publikum.

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DIE KINDER AUS KORNTAL bei DOK Leipzig und dem FFCGN

Der Dokumentarfilm DIE KINDER AUS KORNTAL ist ein Projekt von Julia Charakter (Charakterfilm) aus der Masterclass Non-Fiction der Internationalen Filmschule Köln (IFS) und hatte am 11. Oktober 2023 Weltpremiere bei DOK Leipzig. Die Produktion von Bildersturm Filmproduktion mit ZDF/Das kleine Fernsehspiel und GEO Television läuft im Wettbewerb Deutscher Dokumentarfilm und ist nominiert für den Dokumentarfilmpreis des Goethe-Instituts, den DEFA Förderpreis und dem VER.DI Preis für Solidarität, Menschlichkeit und Fairness. Nach dem Internationalen Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm ist DIE KINDER AUS KORNTAL beim Film Festival Cologne/FFCGN (19. bis 26.10.23) zu sehen.

Ausgezeichnet mit dem Förderpreis der DEFA-Stiftung

Update vom 14.10.23: Der Film DIE KINDER AUS KORNTAL wurde bei DOK Leipzig mit dem mit 4.000 Euro dotierten Förderpreis der DEFA-Stiftung ausgezeichnet. Die Preisverleihung fand am 14. Oktober 2023 in Leipzig statt. Die Jury um Birgit Kohler, Serpil Turhan und Claus Löser urteilte: „Dem Film gelingt es, durch eine präzise Recherche der Filmemacherin und die erschütternden Aussagen der Protagonistinnen und Protagonisten, das komplexe Bild eines systemischen und nicht enden wollenden Missbrauchs nachzuzeichnen. Das Schweigen ist gebrochen.“

DOK Leipzig 2023: DEFA Förderpreis für Die Kinder aus Korntal/Charakterfilm (by Susann Bargas Gomez/DOK Leipzig)
Julia Charakter und Jonas Eckert freuen sich über den Preis (Foto: S. Bargas Gomez)
DOK Leipzig 2023: DEFA Förderpreis für Die Kinder aus Korntal/Charakterfilm (by Sophie Mahler/DOK Leipzig)
Die Filmemacherin Julia Charakter bedankt sich für die Würdigung (Foto: S. Mahler)

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