„Die Kinder von Korntal“ von Julia Charakter: Gottes misshandelte Kinder
Stand:25.09.2024, 16:33 Uhr
Von: Daniel Kothenschulte
Julia Charakters meisterhafter Dokumentarfilm über den Missbrauchsskandal im evangelischen Kinderheim aus Korntal.
Das Schweigen hat eine Ästhetik. Die Dokumentar-Filmemacherin Julia Charakter hat sie in der dezent modernen Inneneinrichtung eines mächtigen Kirchenbaus gefunden. Wenn man im imposanten Großen Betsaal der pietistischen Brüdergemeinde im Württembergischen Korntal die Stühle sortiert, scheint man zugleich mit seiner düsteren Vergangenheit aufräumen zu wollen. Doch es ist eine Sisyphusarbeit.
Die überlebenden Opfer des jahrzehntelangen Missbrauchs wollen nicht mehr schweigen. Nicht nach der Publikation einer von der Gemeinde beauftragten Studie, deren Unabhängigkeit einige der Betroffenen anzweifeln. Nicht nach lächerlich geringen Entschädigungszahlungen, die ein Opfer, das über Jahre erst verprügelt und erniedrigt und dann systematisch vergewaltigt wurde, auf einen Euro und ein paar Cent pro Tag herunterrechnet. Womit solle sie, wenn es dazu komme, häusliche Pflege für sich bezahlen? Denn noch einmal in ein Heim zu kommen – das sei ihr eine unerträgliche Vorstellung.
2014 hat ein anderes ehemaliges Heimkind, Detlev Zander, seine Leidensgeschichte öffentlich gemacht und damit unzählige weitere Opfer ebenfalls dazu angeregt. In diesem Film ist er einer der Protagonisten. „Ich mag das Wort nicht: Menschen eine Stimme geben“, sagt er. „Menschen mit Gewalterfahrung haben Stimmen, nur sie werden nicht gehört.“
Indem die Filmemacherin diesen Satz an den Anfang ihres Films stellt, nimmt sie auch dem allzu einfachen Lob über die eigene Arbeit den Wind aus den Segeln. Denn mit einem bloßen Podium für die aussagewilligen Opfer ist eine derart durchdachte dokumentarische Aufklärung nicht zu haben.
Am Schneidetisch treten sie in einen Dialog, der in der Wirklichkeit nicht zu haben ist: Mit Vertretern der Kirche wie dem späteren Brüdergemeinde-Leiter Klaus Andersen, der im Namen der Täter mit warmen Worten die christliche Gnade der Vergebung einfordert. Oder einem betagten Ehepaar aus der Gemeinde, das mit seinen Spenden keine weiteren Entschädigungen mehr zahlen will. Schließlich seien viele Beschuldigte längst rehabilitiert und möglicherweise Erlittenes doch von der seither verstrichenen Zeit gemildert.
Bilder für das Verdrängte
Selbstverständlich gibt die Filmemacherin den Stimmen der Opfer allen Raum. Aber was will man dazu zeigen, wenn sie das über Jahrzehnte verdrängte in schonungslose sprachliche Bilder rücken? Manchmal wählt sie tatsächlich das Mittel der Illustration in einfachen digitalen Animationen in der Art schwarz-weißer Tafelzeichnungen. In einer poetischen Inszenierung lässt sie ein anderes Mal heliumgefüllte Teddy-Luftballons über der Landschaft zwischen Stuttgart und Ludwigsburg schweben.
Meist aber erweisen sich unscheinbare Nahaufnahmen aus den klerikalen Tatorten als mitteilsamer. „Kinder sind ein Geschenk Gottes“ steht da etwa auf einer Wand. Verschenkt wurden die Heimkinder tatsächlich. Der pädophile Hausmeister durfte sich bedienen, der Lehrer der eigenen Schule und sogar Gemeindemitglieder: Als „Paten“ durften sie Kinder ausleihen und mit ihnen anstellen, was sie wollten. Als eines der Opfer zum Begräbnis eines anderen ging, das als junger Erwachsener Suizid begangen hatte, sah er dessen Vergewaltiger, besagten Hausmeister, das Grab ausheben. Und sich der leidigen Mehrarbeit rühmen.
Ein historischer Fernsehbeitrag aus dem Archiv dokumentiert die Außendarstellung. Als Bilderbuchheim werden da die malerisch gelegenen Einrichtungen der Brüdergemeinde in satten 70er-Jahre-Farben verkauft. „Mehr Pferde als Kinder schauten da aus den Fenstern“, erinnert sich dagegen ein Opfer. Die Heimkinder säuberten die Ställe, reiten durften die anderen. Für einen Kirchenbediensteten mussten sie auf dem Bau schuften, verprügelt wurden sie dagegen allabendlich grundlos. Wenn schon rund 90 Filmminuten eine Herausforderung sind, mit so viel Leid konfrontiert zu werden – wie bewundernswert sind die Jahre, die sich die Filmemacherin dieser Arbeit widmete.
Unfassbare Dimension
Mehr als 150 ehemalige Heimkinder haben sich inzwischen zu ihrem Erlittenen bekannt, mehr als 80 Täter konnten ermittelt werden. Allein die Dimensionen dieser Tragödie sind kaum filmisch zu repräsentieren, und doch wird der Film ihren Ausmaßen gerecht. Dies gelingt in der Auswahl des Erzählten und der Zeit, die sich Julia Charakter für die einzelnen Beispiele nimmt. Trotz der vielen inzwischen in Deutschland dokumentierten ähnlichen Missbrauchsgeschichten fehlt es an einem Denkmal in Spielfilmgestalt, wie es etwa Peter Mullans Drama „Die unbarmherzigen Schwestern“ für die Verbrechen in den irischen Magdalenenhäusern darstellt. Dafür gibt es jetzt einen Dokumentarfilm, der mit einfachen filmischen Mitteln Ähnliches leistet.
Bettina Wegeners Protestsong gegen Kindesmissbrauch, „Sind so kleine Hände“, steht am Anfang und am Schluss. Ein Opfer wählt ihn bei einer Gedenkveranstaltung aus. Wie schwer erträglich mochten einem in der eigenen Kindheit seine sehr direkten Bilder seelischer und körperlicher Zerstörung erscheinen. Nun, nach Jahrzehnten, wirkt er selbst wie eine lange verdrängte Wahrheit.
Die Kinder von Korntal. Dokumentarfilm. Regie: Julia Charakter. D 2023. 95 Min.
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